Locronan heißt: der Kirchensitz des Ronan und bezieht sich auf den heiligen Ronan, der in dieser Gegend erfolgreich missioniert haben und in einem Nebenschiff der Kirche von Locronan beigesetzt worden sein soll. Die Legende des heiligen Ronan ist hier nachzulesen. Der König von Kemper (Quimper) soll ihm Land zur Verfügung gestellt haben, um dort seine Einsiedeleien zu errichten, und die angebliche tägliche Tour (Tro) zu den zwölf Einsiedlerklausen (minihy) gilt als die Grundlage der Troménie, die zwölf Kilometer lang um Locronan herum zieht. Es wird aber angenommen, dass diesen zwölf minihy ebenso viele druidische Naturheiligtümer (etwa Steinaltäre oder Bäume) vorangegangen sind und die Druiden einen Rundgang um diese geweihten Stätten vollzogen haben. Eine weitere Deutung ist die, dass Ronans Umgang eine Art Exorzismus war, indem er an den zwölf Heiligtümern der Druiden zu Evangelien und andere christliche Texte las und Riten vollzog. Druidische Sakralstätten lagen oft in einem heiligen Wald, einem Nemeton, und in der Tat findet man unmittelbar bei Locronan ein Waldstück, das zwar einiges von seiner Ausdehnung verloren hat, nicht aber seinen Namen, denn es heißt noch heute: Bois de Nevet.
Am Sonntag den 8. Juli versammelten wir uns mit vielen anderen Besuchern auf dem Platz vor der Kirche St. Ronan in Locronan. Schon vorher hatten wir uns umgesehen, und am Vorabend hatte es zum Auftakt eine Begrüßung und eine Lichterfeier gegeben. Da bei der Begrüßung nicht nur alle gläubigen Christen willkommen wurden und die Mitglieder der vier Nachbargemeinden, sondern auch alle Neugierigen, fühlten wir uns nicht fehl am und auf dem Platze.
Die Trachten- und Bannergruppen sortierten sich dann nach ihren Heimatgemeinden Kerlaz, Plonévez-Porzay, Quéménéven, Plogonnec und Locronan, und nun kam das "Küssen der Banner". Damit war nicht etwa gemeint, dass die Gläubigen oder gar alle Anwesenden die Banner zu küssen hätten. Vielmehr wurden die Spitzen der Bannerstangen wie zum Küssen einander genähert.
Bei dieser "présentation" der Gemeinden trat auch eine kleine Gruppe von Mitgliedern eines Druidenkollegiums auf, die sich schon in ihrer Tracht unterschieden: lange grüne (für Barden), oder blaue (für Vates) oder weiße Gewänder (für Druiden) sowie eine eigenartige Kopfhaube. Sie waren weder auf Einladung der Kirche dabei noch wollten sie an der Prozession teilnehmen, sondern lediglich ihre Anwesenheit und ihre so viel älteren Rechte auf diesen Rundgang zu erkennen geben.
Nach der Präsentation zogen alle Geistlichen und Trachtengruppen in die Kirche zur heiligen Messfeier, die über Lautsprecher nach außen übertragen wurde. Somit konnten wir an ihr teilnehmen, ohne dabei unseren Platz im gegenüberliegenden Café aufzugeben. In der Kirche wäre ohnehin kein Platz gewesen für die mittlerweile Tausende Besucher und wir hätten es nicht fair gefunden, den Einheimischen ihre Kirchenbank streitig zu machen. Allerdings verloren wir so auch jeden Anspruch auf das "pain béni", das geweihte Brot, das kurz vor Messeschluss eilig aus einer Bäckerei herbeigeholt und an die Herausströmenden verteilt wurde.
Anschließend hatten alle Teilnehmer Gelegenheit, sich für den zwölf Kilometer weiten und ca sechs Stunden langen Weg zu stärken und mit Wasser zu versorgen. Ab zwei Uhr formierte sich der Zug. Die Bannerträger, die Trachtenfrauen und -männer sowie die Geistlichen in ihren elfenbeinweißen Gewändern, unter ihnen auch der Bischof von Quimper und Léon, versammelten sich wieder vor der Kirche und alle sangen geistliche Hymnen, darunter das Ronans-Lied, das in seinem wiegenden Sechsachtel-Rhythmus an diesem Tag noch oft zu hören sein sollte und ein wirklich vereinnahmende Wirkung hatte. Es hat 11 Strophen und ebenso viele Refrainwiederholungen. Wenn sie nicht reichten, um einen Vorgang zu begleiten - und das war oft der Fall -, dann wurden eben alle Strophen wiederholt und noch ein zweites Mal wiederholt. Ich gebe hier nur den Text des Refrains wieder:
So wie dieses wurden viele Lieder in Bretonisch gesungen - man spricht diese Sprache im Alltag praktisch nicht, aber die Liedertexte konnten die meisten geläufig singen. Für mich war es ein Erlebnis, diesen Nachkömmling der altbritischen Sprache im lebendigen Gebrauch zu hören. Aus der Kirche wurden die Reliquien des Heiligen und zahlreiche kleinere Standfiguren heraus getragen und auf den Weg hinaus mitgenommen. Langsam setzte der Zug sich unter Gesang und Glockenläuten in Bewegung, und zusammen mit Tausenden anderen reihten wir uns hinter den Geistlichen ein. Es sei schon hier gesagt, dass von den nicht wenigen Touristen, die anfangs dabei waren, nur wenige die ganze Prozession mitmachten. Die Tausende, die bis zum Ende mitgingen, waren durchweg Mitglieder der veranstaltenden Kirchengemeinden.Sant Ronan or patron
Ni ho ped a galon
Mirit en an Doue
Or c'horv hag on ene
Sankt Ronan, unser Patron,
Wir bitten dich von Herzen,
Bewahre in Gottes Namen
Unsern Leib und unsere Seele
Gleich am Ortsausgang warteten schon dicht hinter einander drei der zwölf Stationen auf die Prozession. Es wurde Halt gemacht, ein Lied gesungen, ein Evangeliumstext gesprochen, der Bischof hielt eine kleine Predigt zu dem Text, es folgten Fürbitten und der Zug setzte sich fort. Natürlich wäre alles das, was vorne geschah, für alle die, die in dem langen Zug weiter hinten gingen, verloren gewesen und wir hätten nichts als einen Landspaziergang in riesiger Gruppe gemacht, wenn nicht Lautsprecherwagen in dem Zug verteilt gewesen wären, die das vordere Geschehen immerhin hörbar machten. Viele - auch wir - waren aber bemüht, trotzdem nahe am Geschehen zu bleiben, und so kam es zu ständigen Stellenwechseln und Überholungen, die aber meist in friedlicher Weise geregelt wurden.
Bedrängend wurde es aber gleich hinter dem Ortausgang von Locronan, als dort die Prozession durch einen sehr schmalen Weg geführt wurde, einen jener bretonischen Hohlwege mit dicht bewachsenen Erdwällen rechts und links und Bäumen, die sich oben fast zu einem Dach schlossen. Auf diesen durchfeuchteten, gefurchten Wegen konnten höchstens zwei Personen nebeneinander laufen. An solchen Stellen streckte der Zug sich sehr lang aus, ging aber wieder in die Breite, sobald sich der Weg auf einen Feldweg, eine Straße oder gar eine Weide hin öffnete.
Gleich am Ortsausgang empfingen uns auch schon mehrere der insgesamt dreißig "Hütten", kleine reichlich mit Blumen geschmückte Buden aus Astgeflecht, die jeweils einer oder einem Heiligen gewidmet waren und an denen man durch ein klingelndes Glöckchen aufgefordert wurde, eine kleine - symbolische - Spende zu geben.
Wir ließen den Ort hinter uns und kamen an Feldern, Wiesen, Weiden vorüber oder an Bauernhöfen. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, einen uralten Weg zu gehen, denn immer wieder bog er ab, machte unvorhersehbare Richtungswechsel, ging auch manchmal quer durch ein Feld, in das der Bauer eine Schneise hatte mähen müssen. Das ließ mich immer an die Geschichten vom Todesweg denken, die A. LeBraz in seinen bretonischen Todeslegenden wiedergibt.
Die Strecken zwischen zwei Stationen wurden zu ausführlichem und nur selten von geistlichen Themen geprägtem Geplaudere unter den Prozessionsteilnehmern genutzt, aber auch von Gesängen, Rosenkranzgebeten oder auch Trommelmusik begleitet. Wenn allerdings die Lautsprecherwagen die beschrittenen Wege nicht befahren konnten - und das war nicht selten der Fall - musste man darauf verzichten und es wurde eine Schweigephase angeordnet und tatsächlich auch fünf Minuten lang eingehalten. Für die Mitglieder der fünf beteiligten Kirchengemeinden war diese Prozession einerseits eine ernsthafte, kirchliche Angelegenheit, deren Teilnahme ihnen am Herzen lag; sie war ja niemandem angeordnet worden. Andererseits war sie für die gleichen Menschen zweifellos auch ein Event, man ging gemeinsam mit Freunden und Verwandten, genoss den Spaziergang und es wurde viel fotografiert und gefilmt. Man hatte etwas fürs Picknick dabei, und auch ein Bierzelt, das jemand etwas verschämt auf einer Weide errichtet hatte, wurde zwischendurch besucht. In der Vermischung von kirchlicher Veranstaltung und Event ist die Troménie vergleichbar mit unseren Weihnachtsgottesdiensten. So zogen wir bei strahlendem und warmem Wetter einige Stunden lang von Station zu Station: Sie hießen im einzelnen: St. Eutrope, Ecce Homo, Sts. Germain und Even, St. Anne la Palud, N.D. de Bonne Nouvelle, St. Miliuau-St. Michel, St. Jean, St. Guénolé, St. Ouen, St. Ronan-Plas ar Horn, St. Théleau, St. Maurice, Alle Stationen lagen an Stellen, die ohnehin schon durch alte bis uralte Wegkreuze hervorgehoben waren. Nach der 9. (?) Station hieß es: "Jetzt geht es den Berg hinauf" und damit war der Anstieg auf dem Plas ar Horn gemeint, 280 Meter hoch und 170 Meter über unserem Ausgangspunkt. Dieser Anstieg zog sich über eine Strecke von einem Kilometer und machte in der Nachmittagssonne einer Reihe von Pilgern erhebliche Mühe. Ein älterer Priester musste gestützt und mit Zuckergaben aufgepäppelt werden. Oben empfing uns aber eine weite Wiese mit Erfrischungszelten und einer Kapelle, der Chapelle St. Ronan. Nach einer längeren Erholungspause und einer ebenfalls längeren bischöflichen Predigt machte der Zug sich wieder auf den Weg, natürlich mit dem Ronans-Lied. Es folgten noch zwei Stationen, dann wurde angesagt, dass zwar alle zwölf Stationen abgeschritten seien, die aber nicht auf dem direkten, kürzesten Weg nach Locronan zurückkehren werde, sondern so wie der Verlauf der Troménie es eben erfordere. Wie zur Bestätigung wurde ein Lied mit dem Text angestimmt: Tu es le dieu des grands espaces, … tu es le dieu des longues routes (Du bist der Gott der großen Weiten, … der Gott der langen Wege). Dieser sehr schöne Umweg befestigte bei uns endgültig den Beschluss, den ganzen Prozessionsweg gleich am nächsten Tag als Wanderweg abzugehen. Er führte an der Jument blanche, der Weißen Stute vorüber, einem großen Felsstein, der seit alters her und wie es heißt noch heute von Frauen aufgesucht wird, die hoffen, dort Erlösung von der Kinderlosigkeit zu finden.
Gegen halb neun kamen wir zurück. Der Einzug nach Locronan und auf den Kirchvorplatz wurde von vielen, vielen Touristen, Journalisten und anderen Neugierigen gesäumt, und weil wir mitten im Prozessionszug waren und von allen als einheimische Teilnehmer angesehen wurden, sangen wir nun auch auf bretonisch das Ronans-Lied mit dreimal 11 Strophen und ebenso vielen Refrainwiederholungen bis alle Reliquien, Priester, Bannerträger und sonstigen Trachtenfrauen und Trachtenmänner in der Kirche verschwunden waren. Dort wurde ein Te Deum angestimmt. Fünf Minuten später hatte der bis dahin klare blaue Himmel sich zugezogen und es kam ein dauerhafter Landregen herunter.Die Feld- und Wegmarkierungen durch uralte, verwitterte Kreuze, die Lage und ungleichmäßige Verteilung der Stationen, der oft willkürlich erscheinende Verlauf des Weges, der Hügel Plas ar Horn mit der Kapelle auf der Rundkuppe und der Fruchtbarkeitsritus um die Weiße Stute sind Anzeichen für einen vorchristlichen Ursprung dieser Prozession. Gesichertes lässt sich darüber aber nicht sagen.
In der folgenden Woche wurden verschiedene Troménies für private Interessenten oder für Alte und Behinderte angeboten, man konnte den Weg aber auch zu beliebigen Zeiten einzeln gehen. Als wir das gleich am Montag taten, waren wir bei weitem nicht die einzigen und wieder waren es überwiegend Einheimische.Der folgende Sonntag, der 15. Juli, war der Abschlusstag der Troménie und sollte genauso mit dem gleichen Programm ablaufen wie der erste Sonntag. Es gab nur zwei Unterschiede:
(1) Es war noch ein zweiter Bischof hinzugekommen (siehe oben im Bild) und (2) Wegen nicht aufhörender Regenfälle wurde die Prozession nach der 6. Station abgebrochen und auf kurzem Wege nach Locronan zurückgeführt, gar nicht so sehr wegen des Regens, sondern wegen der Unzumutbarkeit der schlammigen Wege. Es gab aber zahlreiche Pilger, die sich von beidem nicht abhalten ließen.
Eine längere Feier in der Kirche beendete diesen Tag vorzeitig und damit die diesjährige Grande Troménie in Locronan.
Die nächste wird 2013 stattfinden.